Gedanken von unterwegs: eine Reise zwischen Zorn, Entsetzen und Trauer – aber auch Power

Es war wie so vieles, was wir in Vergangenheit beruflich, politisch und humanitär überlegt, dann organisiert und letztlich umgesetzt haben: unsere Hilfsfahrt an die polnisch-ukrainische Grenze. Wie zehntausende Menschen auch haben wir gespendet, diskutiert, demonstriert und blieben ob der massiven Eindrücke endlos frustriert. Dazu die ewigen Diskussionen mit Putin-Versteher*innen oder Leuten, die meinen, statt Menschen zu helfen müsse doch erst einmal endlos kritisch diskutiert werden, in wie fern der Westen, die USA und die Nato hauptsächlich die Schuldigen seien (…und natürlich hat dieses Dreigestirn auch seinen nicht unerheblichen Anteil an der Konflikt- und Eskalationsverursachung, doch bei weitem nicht nur). Nein, an dieser Stelle will ich das nicht ausweiten.

2018 organisierte ein Unterstützer unseres Vereins und unserer Peltieraktionen aus Mecklenburg-Vorpommern zwei Termine unserer 7. Lesetour “Ein Leben für die Freiheit – Leonard Peltier und der indianische Widerstand” durch den Osten der Republik. Und so wurden wir denn auch Freunde. Ich lasse mal alle Namen hier heute weg. Auf alle Fälle fiel mir aus aktuellem Anlass ein, dass er ursprünglich aus der Ukraine stammte. Nichts lag daher näher als ihn anzurufen und zu fragen, wie es ihm denn gehe angesichts dieses brutalen Krieges. Doch telefonisch erreichten wir ihn nicht, jedoch über WhatsApp – und zwar in der Ukraine. Dort leistet er mit vielen Menschen aus der Ukraine, Deutschland, vielen ehemaligen UdSSR- Staaten humanitäre Hilfe – hilft den Menschen. Und er schrieb uns, was dort alles so fehlt: Insulin, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Blutdruckmittel, Verbandsmaterial, Desinfektionsmittel, Fiebersenker, Notstromaggregate, Schlafsäcke, Campingtoiletten, Taschenlampen, Powerbanks …….. Über unseren Freund und seine Bitten war der Krieg auf einmal für uns emotional erheblich greifbarer geworden. Konnten wir die Bitte um Hilfe abschlagen, von wegen, keine Zeit, keine Helfer*innen, kein Geld, kein sonst was…….? Nun, irgendwie konnten und wollten wir das nicht und so überlegten wir, die ja auch beide Gründungsmitglieder von TOKATA-LPSG RheinMain sind, hin und her und beschlossen eine Sammlung und einen Transport zu organisieren. Nach einer Nacht schlechter Träume fragten wir uns, ob wir da nicht doch mal wieder voreilig waren. Wer würde denn dies unterstützen, wer würde denn helfen, käme denn da überhaupt etwas zusammen? Doch dann wurden die Zweifel überwunden. Klar war, dies kann und soll keine TOKATA-Aktion sein, sondern einfach eine persönliche Initiative – von Menschen für Menschen und für Menschlichkeit -for the people. Und nach dem sich unsere Kinder erst einmal von dem Schock erholt hatten, dass wir auch die Fahrt selbst durchführen würden, und nach dem alle Ängste überwunden waren, wurde das nun innerhalb von zwei Tagen zu einer Family-Aktion. Beide Söhne hatten schon in ihren jeweiligen Wohnorten bei Ukrainehilfen mitgemacht und sagten Support zu. Unsere Tochter wurde zum PR- und Logistk-Meister und fand einen Integrative Verein, der für uns eine Sammelaktion durchführen würde. Ihr Mann brachte seine Arbeitsstelle auf Trab und kam mit medizinischen Hilfsmitteln zurück. Es gab Musiker, die bei uns im KJK Sandgasse auftraten, die Material brachten, Nachbarn aus Seligenstadt, Vereinsmitglieder und Unterstützer*innen von TOKATA-LPSG RheinMain, uns wichtige Menschen aus dem Umkreis der Zapatista-Unterstützer*innen, ehemalige Jugendliche, die bei uns in verschiedenen Jugendzentren waren, Freund*innen, Honorarkräfte aus dem KJK Sandgasse, andere Familienmitglieder……Dies machte Mut und gab uns Kraft, das Projekt nun vollends durchzustarten. Innerhalb kurzer Zeit war der Wagen so voll, dass nur noch der Fahrer reinpasste. Einen Teil der Spenden haben wir daher anderen Hilfslieferungen überlassen. Wir hatten unsere Bedarfsliste, wir hatten unsere Kontakte und so konnten wir passgenau sammeln und übergeben. Mit einem solch beladenen Wagen zu fahren bedeutete, fast 3000 km alleine zu fahren. Aber dafür war ein weiterer Platz für potentiell interessierte ukrainische Mitfahrer nach Deutschland frei, denn mittlerweile hatten wir auch bereits Quartiere für Flüchtende in unserem Bekanntenkreis und auch bei uns organisiert – für Flüchtende, Verwundete oder auch russische Desserteure. Was am 5. März als vage spontane Idee entstand, führte bis zum 9. März zu einem vollen Wagen. Am 10. März begann dann die Tour, am 11. März gab es das Treffen mit unseren Kontaktleuten an der polnisch-ukrainischen Grenze und die Umladeaktion. Bereits wenige Stunden später war unsere Spende direkt im Einsatz. Vor allem die medizinischen Hilfsmittel, Medikamente und das Notstrom-Aggregat wurden sofort eingesetzt. Dazwischen viele Gespräche zwischen Helfer*innen aus allen Teilen Europas und stundenlange Kontakte über SMS, Telefon, WhatsApp usw. , um Übergabeorte zu klären, um sich als Flüchtlingsfahrer in Polen registrieren zu lassen, um bei gestörtem Handyempfang über drei Ecken Informationen zwischen Deutschland, Polen und der Ukraine auszutauschen und alles dann so zum Erfolg zu bringen (dabei und auch bei der Erstellung eines kleinen deutsch-polnisch-ukrainischen Wörterbuches hat unsere Tochter wirklich ihr Organisationstalent bewiesen), um Leute und Fahrzeug zu finden, die unsere Lieferung übernehmen würden, um von der Grenze Menschen zu den nächsten Sammelplätzen für Geflüchtete zu fahren ….. und und und. Doch all dies ist banal und marginal im Verglich zu den Eindrücken an der Grenze und den Sammellagern. Schier nicht endende Menschenschlangen, die über hier noch sichere Grenze nach Polen kommen, viele ohne Ziel – nur raus aus dem Krieg. Erschöpfung, Verzweiflung, Ratlosigkeit, Verlassenheit, Angst, Panik, Apathie, in vielen Gesichtern ist dies als emotionaler Cocktail zu sehen. Dabei auch Erleichterung erst einmal aus dem Kriegsgebiet fort zu sein. Aber auch Trauer um die Zurückgebliebenen. Die Barbarei ist in Europa wieder unmittelbar greifbar. Am 12. März traf dann aus Lemberg kommend eine vierköpfige Familie ein, die mit nach Deutschland kommt. Der Vater bleibt in der Ukraine und kämpft dort. Ob seine Kinder ihn jemals wiedersehen, who knows. Seine Frau heult, wie so viele. Viele der Flüchtenden sind emotional völlig am Ende. Die Kinder verstehen die Welt nicht mehr. Nach einem Luftangriff heute Nacht ist die Familie ohne alles zur Grenze geflohen. Keine Zahnbürsten, keine Hygieneartikel, nur ein kleiner Rucksack mit Habseligkeit – für vier Personen. Die Rückfahrt kann langsam gegen Abend beginnen. An den Tankstellen der polnischen Autobahn schauen dort wartende Ukrainer mit entsetzten Blicken auf die TV-Bilder der russisch-imperialistischen Zerstörungsorgie, viele sind leichenblass, andere heulen. Zuhause ist bei uns ein ukrainisch-mexikanisches Paar eingezogen, unsere Tochter koordiniert den ganzen Tag Transporte, Ziele, Unterkünfte und auch für unsere nächtliche Fahrt ein Hotel nahe der Grenze zu Deutschland.. Am Tag 4 der Tour , den 13. März, wird damit die erste Fahrt nach knapp 3000km Fahrt wohl abgeschlossen sein. Unklar ist aktuell, ob und wann die nächste Hilfsfahrt losrollt. Unsere Partner sind noch in der Ukraine, helfen medizinisch, humanitär aber auch im Widerstand. Sehen wir unseren Freund gesund und lebend wieder? Fragen bohren sich wie Eispickel ins Gemüt. Oder wie sagte es die Mutter bei der Fahrt heute: uns brennt und schmerzt so die Seele.

Wir danken allen, die uns unterstützt und bestärkt haben, ideell, finanziell und mit Sachspenden materiell und auch für die Angebote Flüchtende aufzunehmen. Auch wenn ich hier keine Namen erwähnt habe, all den Spenderinnen und Spendern unseren großen Dank. Das hilft nicht nur den Menschen hier vor Ort in diesem barbarischen Angriffs- und Vernichtungskrieg, es hat auch uns Mut und Kraft gegeben. Der Hinweis auf folgende Gruppen sei dennoch erlaubt: unser Dank an das Küchenhaus Süd und dessen Mitarbeitenden, dem Verein “Gemeinsam mit Behinderten e. V.”, an Mitglieder und Unterstützende von TOKATA-LPSG RheinMain e. V., unseren Projektpartner*innen in der Ukraine sowie Libertären aus der Ukraine, ex-UdSSR und Deutschland, sowie Unterstützenden auf polnischer Seite – im wahrsten Sinne eine internationale Brigade der Helfenden.

Ich ganz persönlich bedanke mich aber auch bei meiner Frau und Familie, die nicht nur die gesamte Aktion tagelang rund um die Uhr mit unterstützten und mit organisierten, auch während der Fahrt als Teil der Dreiländer-Kommunikationszentrale. Ich danke von unterwegs auch für die enorme logistische Arbeit, die unsere Familie, und vor allem unsere Tochter bei der Unterbringung und Unterstützung von Flüchtlingsfamilien geleistet hat. Auch bei der Beschaffung von Spenden waren meine Frau und Familie unermüdlich. Jede freie Minute Telefondienst, auch immer wieder Updates hoch an die ukrainische Grenze und nach Polen. Ich danke meiner Familie aber auch, dass sie mich nach anfänglichen Bedenken allein die Fahrt antreten ließ und somit mehr Güter sowie auch Personen transportiert werden konnten und damit der Hilfseffekt größer wurde. Und ich danke als Ungläubiger den spirits bei meinem täglichen morgendlichen Sage-Smoken während der Tour, eine Zeremonie, die ich unseren Navajo-Cheyenne-Arapaho-Lakota-Freund*innen verdanke. Dies gab mir bei aller Wut die Kraft sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, Menschen in Not zu helfen und diese in Sicherheit zu bringen. Und es zeigt, dass es nicht unbedingt großer Organisationen bedarf, um effektiv zu helfen – dies könnten sehr viele mehr Grassroot-People und Grassroot-Projekte.

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